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Hallers herausragende Stellung in der Medizin des 18. Jahrhunderts ist vor allem bedingt durch seine systematische Untersuchung des lebenden und toten Körpers. In der Anatomie betonte er die Notwendigkeit der wiederholten Sektion, welche allein die häufig auftretenden Strukturen von seltenen Varianten unterscheiden kann. Durch die Präparation von nahezu 400 Leichen gelang es ihm, in bisher nicht erreichter Vollkommenheit den Verlauf der Arterien im menschlichen Körper darzustellen (*Icones anat. 1743-56). Weitere Arbeiten galten den Missbildungen und ihren Gesetzmässigkeiten. Der Name von Haller war jahrelang verbunden mit den anatomischen Strukturen des Zwerchfells (arcus lumbocostales Halleri), der Hoden (rete Halleri) und des Gefässsystems (tripus Halleri).

Die Anatomie bildete für Haller die Grundlage zur Erforschung der Lebensvorgänge, Physiologie war für ihn belebte Anatomie (anatomia animata). Die alles entscheidende Forschungsmethode aber war das Experiment am lebenden Körper. Mit der systematischen Durchführung zahlreicher – oft grausamer - Tierexperimente zur Bestimmung von Sensibilität und Irritabilität (Reizbarkeit) einzelner Körperteile kann Haller als Begründer der experimentellen Physiologie gelten. Als Resultat seiner Untersuchungen (*De part. irrit. 1753) ordnete er spezifischen organischen Strukturen spezifische Eigenschaften zu (Muskel - Irritabilität; Nerv - Sensibilität) und hielt damit die bisher unklar getrennten Bereiche der Bewegung und Empfindung auseinander. Dadurch löste er eine europaweite Kontroverse aus, welche die medizinischen Konzepte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wesentlich mitprägte.

Haller begutachtete seine eigenen Schriften immer wieder und publizierte sie oft in mehreren überarbeiteten Fassungen. Aus der Kombination von eigener Forschung und kritischer Verarbeitung der Schriften Anderer formte Haller schliesslich seine grossen kritischen Synthesen in der Physiologie (*Boerhaave prael. 1739-44 [373], *Prim. lin. physiol. 1747 [390], *El. physiol. 1757-66 [423]). Das letzgenannte Werk, die achtbändigen «Elementa physiologiae», wurden zum Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung der Physiologie im 19. Jahrhundert.

Weitere Studien galten der Strömung des Blutes, dem Aufbau des Knochens und der Embryonalentwicklung (*De formatione cordis 1767 [903]). Durch umfangreiche Studien am Hühnerei und geleitet von weltanschaulichen Überzeugungen, vertrat Haller die Auffassung, dass der Keim nicht neu entsteht, sondern von Anfang an gebildet lediglich wächst und sichtbar wird (Präformationsthese). Um den aktuellen Wissensstand zu dokumentieren und der gelehrten Welt verfügbar zu machen, verzeichnete und kommentierte Haller das gesamte Schrifttum der Medizin in drei Bibliographien (*Bibl. anat. 1774-77 [329], *Bibl. chir. 1774-75 [1089], *Bibl. med. pract. 1776-88 [1091]).

Hallers Tätigkeit als praktischer Arzt wurde lange unterschätzt. Wie sein Briefwechsel belegt, praktizierte er nicht nur 1729-36 in Bern, sondern war Zeit seines Lebens nebenbei als beratender Arzt tätig (insbesondere in schwierigen Krankheitsfällen). Mit seinem Namen verbindet sich das «Elixir acidum Halleri», das aus einem Teil Schwefelsäure und drei Teilen Weingeist besteht und das noch in der «Pharmacopoea Helvetica Quarta» (1907, gültig bis 1933) aufgeführt ist.

Forschungsliteratur
Anatomie und Physiologie: Duchesneau 1982, Monti 1990, Roe 1984, Schär 1958, Steinke 2005, Steinke 2007, Steinke 2008.
Embryologie: *De formatione cordis 2000, Cherni 1998, Detlefsen 2006, Duchesneau 1982, Mazzolini 1977, Monti 1990, Monti 2008, Roe 1981.
Praktische Medizin: Boschung 1977, Boschung 1985a, Boschung 1996, Boschung 2008a, Steinke/Boschung 2007.